Bon Appetit – eine Mahlzeit, die anders verläuft als geplant

Bon Appetit – eine Mahlzeit, die anders verläuft als geplant

 

Bon Appetit

Von Detlef Faber

 

Constance da Silva betrat das Luxusrestaurant La Fleur, einem exquisiten Etablissement, in dem sie sich nicht einmal ein Dessert leisten konnte. Es lag am Rande der See-Kuppel von Neu-Acapulco. Die teuren Tische hatten einem grandiosen Blick auf die künstliche Landschaft, in der eine weit verzweigte Wasserfläche eingebettet war. Wellen glitzerten im, von versteckten Lampen verstärktem, Sonnenlicht. Jupiters volles Rund stand am Himmel. In den kleinen Buchten und Fjorden des Sees fuhren Modellboote herum, um ihn größer wirken zu lassen.
Die günstigeren Tische des Restaurants, die ebenfalls jenseits von Constance’s Budget lagen, blickten durch die transparenten Kuppelwände auf Kallistos Eislandschaft und die anderen bunt erleuchteten Kuppeln der Kolonie. Sie lag nahe am Äquator, ein Urlaubsparadies für die zahlungskräftigen Erdmenschen von den Raumstationen des Consortiums, die der Enge ihrer Dienststätten entkommen wollten. Andere Kolonisten und Outsider waren selten unter den Gästen, allenfalls als Lieferanten und Dienstboten.
Das La Fleur war prunkvoll eingerichtet, mit schmiedeeisernem Mobiliar, geklöppelten Tischdecken und grauenhaft kitschigen Kristallleuchtern an der Decke. Zwischen den Fenstern standen Nachbildungen von historischen Kanonenöfen und mechanisch betriebenen Nähmaschinen. Die Wände bestanden aus künstlichen Backsteinen. Kellner in weißen Gamaschen, Hemden mit Stehkragen, schwarzen Westen und Unmengen Pomade in den Haaren, liefen geschäftig umher. Der Restaurantleiter, ein sehniger Kolonist mit Glatze und Anzug, beäugte sie kritisch.
Constance arbeitete für das Fremdenverkehrsbüro, der de facto Regierung der weitläufigen Kuppelstadt. Es dauerte nicht lange, bis sie den Mann, den sie hier treffen sollte, an einem Tisch sitzen sah. Sie war gewarnt worden, doch was sie sah, überstieg ihre Vorstellungskraft. Die Erdmenschen vom Consortium waren deutlich übergewichtiger als die einheimischen Kolonisten, schließlich stand ihnen unbegrenzte, von der Erde importierte, Nahrung zur Verfügung. Aber dieser Erdling war, selbst an consortialen Maßstäben gemessen, unglaublich fett. Er saß auf zwei Stühlen ohne Armlehnen, sein Bauch quoll über die Tischkante und seine Stummelärmchen schienen unfähig, sich vor der Brust berühren zu können. Das Gesicht war eine teigige Masse aus glänzender rosa Haut mit tiefen Hautfalten neben den Nasenlöchern, in denen vermutlich Augen verborgen waren. Ein Hals war nicht zu erkennen, stattdessen mehrere Kinne, die sich bis in den Ausschnitt eines Shirts mit der Aufschrift Gravitation? Nein Danke erstreckten.
Constance verbarg ihr Entsetzen und setzte ihr offizielles Touristen-Begrüßungs-Lächeln auf, als sie ihn ansprach: „ Guten Tag, Señor Vrondijk. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Corinne Müller, vom Fremdenverkehrsbüro.“ Ein mulmiges Gefühl sagte ihr, das es besser war, dass der Fleischberg ihren richtigen Namen nicht kannte. „Darf ich mich setzen?“
Das oberste seiner Kinne war in Wirklichkeit ein Mund. „Klar, Süße,“ grunzte er, mit einer Stimme, der man den Druck von zu viel Fettgewebe unter der Lunge anmerkte. Er deutete auf den Stuhl neben sich.
„Danke, sehr freundlich,“ antwortete Constance und setzte sich auf den Platz, der am weitesten von ihm entfernt lag. „Das Taxi, das Sie zum Raumhafen bringt, wird in fünfundvierzig Minuten hier sein.“ Sie senkte ihre Stimme. „Wir haben von den Schwierigkeiten gehört, die Sie mit der Regierung von Hrungia hatten.“
„Dreckschweine sind das!“ Speichel flog in hohem Bogen auf den Tisch. „Eine ganz normale Geschäftstransaktion habe ich durchgeführt und jetzt behaupten sie, ich hätte betrogen!“
Constance bezweifelte, dass Waren kaufen und nicht bezahlen, im Consortium als eine normale Geschäftstransaktion angesehen wurde. Aber in Neu-Acapulco hatte der Consortiumgast immer Recht. „Sicher war das ein Missverständnis, doch bis das ausgeräumt ist, müssen wir Sie schützen, denn das Kopfgeld, was auf Sie ausgesetzt ist … enorm. Durch Ihre RF-ID sind Sie außerdem auf große Entfernung leicht zu finden.“
Jeder Erdmensch bekam nach der Geburt, einen RF-ID Chip als unfälschbaren Ausweis eingepflanzt. Diese konnten, mit entsprechenden Geräten, angepeilt und identifiziert werden. Das Fremdenverkehrsbüro tat das auch, zu statistischen Zwecken, und um zu wissen, wo sich die irdischen Gäste herumtrieben.
„In einer Stunde sitze ich im Raumschiff nach Beta, was soll mir bis dahin passieren?“ Vrondijk nahm einen Schluck aus einer Biertulpe, so groß wie ein Goldfischglas.
„Das Wachpersonal, das im Moment an Vorder- und Hintertür des Restaurants steht, hat heute schon einen Kopfgeldjäger festgenommen, der es auf sie abgesehen hatte. Vielleicht werden wir seine Leiche am Eingang des Raumhafens aufhängen, damit dieses Gesindel sieht, was wir mit Leuten machen, die unsere Gäste bedrohen.“
Vrondijk stieß ein hässliches Keuchen und Grunzen aus. Constance vermutete, dass es Gelächter war.
„Das liebe ich an diesen dreckigen Eisklumpen mit ihrem menschlichen Abschaum. Es wird nicht lang gefackelt.“ Wieder ein Lachen, das klang, als ob ein Schwein geschlachtet wurde. „Das, und die geringe Schwerkraft.“ Die kleinen Knopfaugen tief hinter den Hautfalten fixierten Constance. „Sie könnten mir noch einen blasen, bis mein Essen kommt.“
„Zu gerne, aber da ist Ihr Hauptgang schon.“ Ein Kellner stellte zwei dampfende Schüsseln auf den Tisch. Constance beeilte sich aufzustehen. „Ich möchte Sie nicht weiter stören Señor Vrondijk. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug und besuchen Sie doch bald unsere neue Gebirgskuppel, zum Entspannen und Bergwandern. Mit einem Aufzug zum Gipfel … für die Ungeduldigen.“ Sie winkte zum Abschied, einen Händedruck wollte sie keinesfalls riskieren, dann ging sie, so schnell sie konnte, zum Ausgang.
„Ich melde dich wegen Ungastlichkeit, Schlampe,“ hörte sie die pfeifende Stimme hinter sich.
So ein Mistkerl dachte sie schwer atmend. Eine Meldung war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Sexuelle Nötigung wurde einem zahlenden Gast immer verziehen, einem Mitarbeiter, der die Gefälligkeit verweigerte nicht.
Verdammt! Sie spuckte aus. Hoffentlich schnappt dich doch einer.

„Ein neues Bier für Tisch siebzehn“ rief der Kellner in die Durchreiche zur Küche, nachdem er Vrondijk bedient hatte. Er stand in einem Flur, von dem eine breite Tür in den Gastraum und zwei schmale Türen zu den Toiletten führten. Die Wände waren mit Gemälden in verschnörkelten Rahmen aus künstlichem Holz dekoriert. Sie zeigten bäuerliche Szenen, die auf Kallisto nie stattgefunden hatten. Am Ende des Gangs lag der Hinterausgang des Restaurants.
„Groß?“, fragte eine Stimme aus dem rechteckigen Loch in der Wand.
„Nein. Eimer“ rief der Kellner zurück. Er wollte gerade wieder in den Gastraum zurückkehren, als ein Mann in einem schwarzen Mantel an ihn herantrat.
„Guten Tag. Ich bin Doktor Doolittle, vom Gesundheitsamt. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Gesundheitsamt?“, fragte der Kellner verwundert, „ich wusste nicht, das es eines gibt.“
„Seit Kurzem gibt es eins. Lenken Sie bitte nicht ab.“ Er führte den Ober vor die Tür zu den Toiletten. „Wie viel wiegen sie?“
„Sechzig Kilo.“
Der Doktor stellte etwas an einem länglichen Gegenstand ein.
„Leiden Sie an Bluthochdruck oder Anämie?“
„Nein.“
„Sind Allergien gegen Anästhetika bekannt?“
„Nein“
„Gut. An welchem Tisch sitzt die fette Qualle, der sie gerade das Essen gebracht haben?“
„Tisch siebzehn. Wieso …“ Weiter kam er nicht. Der Doktor presste die Spitze des länglichen Gegenstandes gegen seinen Hals. Es zischte, als der Subkutan-Injektor Betäubungsmittel in die Halsschlagader injizierte. Danach brach er zusammen und wurde von dem vermeintlichen Mediziner in die Herrentoilette verfrachtet.

Vrondijk sah den Mann, der ihm sein Bier servierte, argwöhnisch an. „Wer sind Sie denn, vorhin hatte mich ein anderer bedient.“
„Jules ist verhindert, seine Großmutter hatte einen Unfall beim Bergsteigen. Ich werde mich jetzt um Sie kümmern“ antwortete der Kellner. Er trug eine schief gebundene Fliege und sein Hemd schien einige Nummern zu klein für den muskulösen Körper.
„Putzen Sie mir den Mund ab,“ blaffte Vrondijk. „Meine Serviette liegt auf dem Boden und ich hebe sie nicht auf.“ Demonstrativ ließ er das weiße Tuch, das er in der Hand hielt, fallen.
Die Augen des Kellners wurden groß, dann nahm er wortlos eine Serviette vom Nebenplatz und tupfte an Vrondijks Gesicht herum.
„Vorsicht, Sie Blödmann, das ist mein Kinn.“
„Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, das ist schwer zu unterscheiden.“
„Sie unverschämter Volltrottel. Ich werde mich beschweren. Stellen Sie gefälligst das Bier auf die andere Seite, damit ich besser dran komme. Holen Sie mir noch einen Nachschlag Gratin, aber dalli!“
„Sehr wohl, mein Herr.“ Der Kellner schnappte sich eine leere Schüssel und eilte zur Küche.

Victor Z., schleuderte die Schüssel in den Müllschlucker vor der Küche, fluchte und stampfte den Gang entlang zu den Toiletten, verfolgt von dem hässlichen Knirschen des Mahlwerks, das sich abmühte die Schüssel zu zerkleinern. Als langjähriger und immer noch lebender Kopfgeldjäger war er einiges gewohnt, doch so, hatte ihn bisher niemand beleidigt. Beleidigt wurde er oft, aber in den meisten Fällen wusste Victor genau weshalb.
Fluchend betrat er die Herrentoilette. Eine der Kabinen war besetzt. Dort hatte er den betäubten Ober, der ihm seine Dienstkleidung geliehen hatte und einen großen Rollcontainer eingeschlossen. Victor sah in den Spiegel und zupfte an der zerrupften Fliege herum. „Das werde ich Vrondijk heimzahlen,“ versprach er seinem Spiegelbild. Grimmige Freude erfüllte ihn bei dem Gedanken. Eine Zutat fehlte noch im Plan. Seufzend aktivierte er den codierten Kurzstreckenfunk der Man2Machine Schnittstelle, die an seinem Hirnstamm angeschlossen war. „Lysi, wo steckst du? Du solltest doch in der Toilette warten“ formulierte er in Gedanken. Die Antwort erschien in Victors Bewusstsein, eingeimpft von dem M2M Interface: „Ich bin auf der Damentoilette. Da mein Avatar weiblichen Geschlechtes ist, schien mir das angemessen.“
„Was angemessen ist und was nicht bestimme immer noch ich“ funkte Victor zurück. „Wie sollen wir den Austausch durchführen, wenn du einen Raum weiter sitzt? Komm sofort her! Aber unauffällig.“
Ein Gast betrat die Toilette und stellte sich vor ein Pissoir. Victor wusch sich die Hände an einem der klobigen Porzellanwaschbecken. Erneut ging die Tür auf und eine Frau in einem ausladenden, grünen Overall kam herein. Sie blickte stur geradeaus und würdigte keinen der beiden Anwesenden eines Blickes. Sie schlurfte in eine der Kabinen und verschloss die Tür.
Der Vorfall schien den Mann am Pissoir um seine Konzentration gebracht zu haben, auf dem Boden bildete sich eine gelbliche Pfütze.
„Sie sollten einen Besuch beim Urologen in Erwägung ziehen, mein Herr“ riet ihm Victor. Mit rotem Gesicht stürmte der Gast aus dem Raum.
„Das war nicht unauffällig,“ schnauzte Victor die geschlossene Tür an, hinter der Lysi saß.
„Das konnte ich nicht ahnen“ antwortete sie teilnahmslos.
„Wir müssen unauffällig bleiben. Wenn nur der geringste Verdacht aufkommt, Vrondijk wäre verschwunden, macht das Fremdenverkehrsbüro alle Schleusen dicht. Dann dürfen wir nicht mehr in der Kolonie sein, sonst sitzen wir in der Falle und bald im tiefsten Kerker, den das Büro hat.“
„Du und die ferngesteuerte Sexpuppe, die ich als Avatar benutzen muss, vielleicht. Ich bin immer noch im Raumschiff, wenn das passiert.“ Victors Schiff, die Ockham stand auf einem Eisfeld, außerhalb der Sichtweite der Seekuppel.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dir die Batterien ausgehen“ antwortete Victor eisig.
„Immerhin einige Monate.“
„Genug jetzt. Ich locke ihn her, betäube ihn und packe ihn in den Rollcontainer. Darin transportiere ich ihn zu dem Isoliercontainer, der hinter dem Restaurant bei den Mülltonnen steht. Der schirmt den RF-ID Chip in seiner Herzwand ab, damit er an keinem automatischen Checkpoint auffällt. Du übernimmst seinen Platz und futterst dich so lange durch die Speisekarte, bis ich ihn aus der Kolonie gebracht habe. Du wirfst deine Tarnung ab und verschwindest ebenfalls.“
„Das hast du mir alles bereits erklärt.“
„Nur um sicherzugehen“ schnaubte Victor und verließ den Raum.

„Da ist ein Herr vom Fremdenverkehrsbüro, der Sie sprechen möchte.“ Victor unterdrückte mühsam seine Wut.
„Bringen Sie ihn her, Blödmann“ blaffte Vrondijk, „dafür stehe ich doch nicht auf.“
„Er sagte, es sei vertraulich.“
„Und dann spricht er ausgerechnet mit einem Kretin wie Ihnen.“
Victor atmete tief ein und stellte sich vor, wie er mit der Faust die Reihenfolge von Vrondijks Kinnen änderte. „Es geht um Geschäfte … und Frauen.“
„Warum sagen Sie das nicht gleich!“ Vrondijk stand auf und warf beide schmiedeeiserne Stühle um. Victor gelang es, einen aufzufangen, der andere polterte zu Boden. Missbilligende Blicke der Gäste verfolgten sie, als sie zu den Toiletten gingen.

„Wo ist der Mann, Vollidiot.“
„Etliche Hrungia Händler mussten wegen dir, ihre Kinder in die Sklaverei verkaufen“ knurrte Victor, presste den Subkutan-Injektor in Vrondijks wabbeligen Hals und injizierte eine Dosis Betäubungsmittel – nichts geschah. Überrascht kontrollierte Victor den Injektor, während sich der Schreck in Vrondijks Gesicht ausbreitete. „Hilfe“ röchelte er mit schwacher Stimme. Hastig legte Victor ihm die Finger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, doch der Dicke biss ihn.
Victor zog die Hand zurück und schlug stattdessen mit der Faust auf die Gegend, in der er den Solarplexus seines Gegenübers vermutete. Der Schlag nahm Vrondijk die Luft zum schreien, aber nicht das Bewusstsein – zu viel Fett über dem Nervenknoten. Dasselbe galt wohl auch für das Ziel der Injektion, die Halsschlagader. Victor gelangte mit zwei Schritten in den Rücken seines Gegners legte einen Arm um den Hals und zog den Kopf auf die Seite. Die andere Hand suchte in der wabbeligen Masse unter dem Ohr nach einem Puls. Gleichzeitig zog er ihn rückwärts in die Herrentoilette hinein. Als er das schwache Pulsieren einer Arterie spürte, presste er den Injektor auf die Stelle und verpasste ihm eine weitere Dosis Betäubungsmittel. Diesmal zeigte sich die erwünschte Wirkung, Vrondijks Körper erschlaffte und die Fettmassen sanken zu Boden. Victor gab ihm gerade einen freundschaftlichen Tritt, als eine Wasserspülung ertönte. Erschrocken sah er, dass alle Kabinen besetzt waren, in einer saß Lysi, in einer lag der Kellner und in der letzten ein ahnungsloser Gast, der Anstalten machte, die Bedürfnisanstalt zu verlassen.
„Lysi, mach die Tür auf. Schnell“ funkte er und rollte hektisch den schlaffen Körper seines Opfers zu ihrer Tür, schob und drückte ihn hindurch und kletterte selbst auf den Fleischberg hinauf, um die Tür von innen schließen zu können. Als der Riegel einrastete, erklangen Schritte, die die Toilette verließen.
Victor kauerte mit finsterer Miene und ebensolcher Laune auf dem Rücken seiner übergewichtigen Beute. Die Aktion verlief bisher gar nicht so, wie er sie geplant hatte. Ein schlechter Anfang führte zu oft dazu, dass ein Plan schief ging. Er linste über den Rand der Kabinentüre und stellte fest, dass der Raum leer war.
„Hast du das Schild,“ fragte er. Lysi, die von den Massen eingeklemmt, neben der Toilettenschüssel stand, reichte ihm ein Plakat, mit der Aufschrift: Wegen Reinigung geschlossen.
Eilig verließ Victor die Kabine, hängte das Schild außen auf und schloss die Tür der Herrentoilette von innen ab.
„Beeil dich, er soll nicht zu lange fort sein.“ Er zerrte dem Betäubten die Oberbekleidung vom Körper. Lysi zog eine Maske mit Vrondijks Gesichtszügen über und blies mithilfe eines Kompressors, die Ballons auf, die ihr eine ähnlich umfangreiche Figur verliehen, wie die des Originals. Schläuche mit Wasser um Lysis Hüfte sorgten für Gewicht. Als exakter Doppelgänger des Erdmenschen verließ sie den Raum und stapfte zu seinem Tisch.

Schweiß rann von Victors Stirn. Er zerrte und drückte mit aller Kraft an dem Bewusstlosen und dem, vormals in der Toilettenkabine versteckten, Container.
„Er passt nicht rein“ teilte er Lysi über Funk mit.
„Wo passt er nicht rein?“
„In den Container, mit dem ich ihn aus dem Restaurant schaffen will.“
„Warum sagst du das mir? Du willst doch immer alles allein lösen können.“
Victor ballte die Fäuste. „Ich gebe dir jetzt die Möglichkeit, etwas Nützliches beizutragen.“
„Du musst den Isoliercontainer in das Restaurant bringen.“
„Der passt niemals durch die Tür der Herrentoilette!“
„Nimm nur die geforderten zweihundert Gramm Gehirn mit.“
„Verlockend, aber das gäbe Abzüge beim Kopfgeld.“
„Dann weiß ich auch nicht weiter. Wie könnte ein dummes künstliches Bewusstsein wie ich, deinem Intellekt, das Wasser reichen.“
Victor unterbrach die Verbindung, bevor er anfing, vor Wut Dinge zu zerschlagen. Er mochte es nicht zugeben, doch das störrische elektronische Bewusstsein hatte Recht, er musste den Isoliercontainer herschaffen.
Gerade schob er den leeren Rollcontainer durch den Hinterausgang, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Zwei riesige, muskelbepackte Kolonisten in dezenten Anzügen und schwarzen Visorbrillen, bewachten die Tür.
„Fremdenverkehrsbüro,“ rief einer von ihnen. „Was transportieren Sie da?“
„Nichts, nur eine Kiste voll Luft“ antwortete Victor, bemüht so unschuldig wie möglich auszusehen, obwohl er schwitzte und die Hand des Gorillas schwer auf ihm lastete.
Penibelst wurde der Container untersucht, bevor sie Victor gehen ließen. Er stellte die nutzlose Rollkiste zu den Mülltonnen und kehrte, unter den wachsamen Augen der Bodyguards, in das Restaurant zurück.
In der Herrentoilette entledigte er sich eilig der Kellneruniform und zog seine eigene Kleidung an. Hätte er Vrondijk im Container gehabt, säße er jetzt in großen Schwierigkeiten. Sein ursprünglicher Plan war nicht mehr umzusetzen. Er dachte nach: Lysi konnte die Mahlzeit in die Länge ziehen, ohne die Gorillas des FV-Büros misstrauisch zu machen, also hatte er noch Zeit, sich einen Ausweg einfallen zu lassen.
Im Flur traf er auf den Restaurantleiter und einen Gast, zu erkennen am feisten Gesicht und zu viel Bauch, als ein unüberhörbares Krachen aus der Herrentoilette erklang. Die beiden Männer eilten in den Raum. Victor erkannte, dass sein Zeitfenster zum Nachdenken soeben zusammengebrochen war. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Hinterausgang, doch seine angeborene Sturheit ließ ihn in die Toilette stürmen.
Die Toilettentür war zerbrochen, Vrondijk und der Kellner, beide in Unterwäsche, lagen miteinander verknotet auf dem Boden. Der Restaurantleiter beugte sich gerade über sie, als Victor rief: „Nicht anfassen!“
Die Männer sahen ihn erwartungsvoll an. „Ich – ich bin Dr. Doolittle, vom Gesundheitsamt.“
„Es gibt hier ein Gesundheitsamt? Das ist mir neu.“ Der sehnige Kolonist war verblüfft.
„Es gibt jetzt eines. Ich muss diese Leute untersuchen. Treten Sie beiseite.“ Victor nestelte an den Betäubten herum, dann wandte er sich an den feisten Erdmenschen. „Sie können wieder gehen! Sicher spendiert Ihnen das Haus irgendein hochprozentiges alkoholisches Getränk, auf den Schreck.“
Der Gast grinste freudig, der Restaurantleiter nicht. Aber er nickte. „Oh ja. Selbstverständlich, mein Herr. Ich lasse es Ihnen bringen, sobald ich hier fertig bin.“
Zufrieden verließ der Erdmensch die Toilette.
Victor erhielt einen Funkruf von Lysi: „Hier sind Leute, die Vrondijk zum Raumhafen fahren wollen. Was soll ich tun?“
„Halte, sie hin. Ich bin noch nicht soweit.“
Der Restaurantleiter wurde ungeduldig. „Was ist denn nun. Haben die beiden ein … Verhältnis?“
„Stören Sie mich nicht“ blaffte Victor, „ich überlege … ich meine … untersuche!“ Er hielt inne, der Hauch einer Idee wehte aus seinem Unterbewusstsein.
„Geh mit ihnen, Lysi,“ funkte er zurück.
„Wir werden innerhalb von fünfzehn Minuten am Terminal sein. Hast du dann genug Zeit wegzukommen?“
„Lass das meine Sorge sein.“ Victor grinste. Ein neuer Plan hatte Gestalt angenommen. „Herrlich“ sagte er laut, was auf Unverständnis beim Restaurantleiter traf. „… er ist noch nicht ansteckend,“ improvisierte Victor.
„Ansteckend? Ist er denn krank?“ Der Chef des Hauses wurde blass.
Victor setzte eine ernste Miene auf. „Er hat die … Blaupausen. Ich will Sie nicht mit dem medizinischen Fachbegriff verwirren. Sehen Sie die Flecken an seinem Hals?“
„Ich hätte sie für normale Hämatome gehalten.“
„Das ist das Fatale an den Blaupausen. Diese Männer müssen sofort in Quarantäne. Glücklicherweise, habe ich einen Isoliercontainer bei den Mülltonnen geparkt. Ich werde ihn holen.“ Bevor er die Toiletten verließ, legte er dem Restaurantleiter die Hand auf die Schulter. „Sie wissen ja, dass es in Ihrem Interesse ist, diese Angelegenheit vertraulich zu handhaben. Es ist nicht die Intention des noch jungen Gesundheitsamtes, gleich ein Restaurant zu schließen. Das wirkt abschreckend auf die Gäste.“
Der Restaurantleiter presste die Lippen zusammen. Dann nickte er. „Tun Sie, was Sie tun müssen.“

Als Victor das Restaurant durch den Hinterausgang verließ, sah er das Flugtaxi, das von drei Mantelrotoren angetrieben wurde, mit dem falschen Vrondijk davonschweben. Die Gorillas hatten sich zu Fuß auf den Weg zu ihren Bäumen gemacht. Victor winkte ihren Rücken fröhlich nach. Unbehelligt brachte er den bleiverkleideten Container zur Herrentoilette. Widerwillig half ihm der Restaurantleiter, den massigen Leib in die Kiste zu hieven. Den schlaffen Körper seines Kellners hob er hingegen, mit Leichtigkeit hinein.
„Leben Sie wohl,“ rief Victor dem Restaurantleiter zum Abschied zu.
„Ich hoffe, ich sehe Sie niemals wieder,“ bekam er zur Antwort. Er zuckte mit den Achseln und beeilte sich wegzukommen.

Lysi’s Avatar schwieg während des Flugs. Zwei Bodyguards saßen vorne beim Fahrer, sie alleine im Fond. Neben ihrer aufgeblasenen Figur hätte ohnehin niemand mehr sitzen können. Das Taxi brachte sie mit beachtlicher Geschwindigkeit zum Gebäude des Raumhafens, zwei Kuppeln weiter nördlich. Die Verbindungstunnel zwischen den Fundamenten der Stadtteile waren breit genug, dass das Flugtaxis hindurch schweben konnten. Pflichtschuldig meldete sie ihre Ankunft am Raumhafen an Victor, erhielt aber keine Antwort.
Nachdem sie sich durch die Tür des Taxis ins Freie gezwängt hatte, begleiteten sie die Bodyguards in das Raumhafengebäude.
„Vielen Dank. Sie können jetzt gehen“ knurrte sie, mit der tiefsten Stimme, die ihr künstlicher Körper zustande brachte. Lysi wusste, dass ihr Avatar keinesfalls durch die Personenkontrolle kommen würde, da sie nicht über die RF-ID Vrondijks verfügte. Also steuerte sie die Toiletten an, um ihre Verkleidung abzulegen.

Victor lief, so schnell es der selbstfahrende Isoliercontainer zuließ, zur nächsten Schleuse. Es war eine der Notschleusen, die in regelmäßigen Abständen am Fundament der Kuppeln verteilt waren.
Lysi hatte ihm gerade die Ankunft am Raumhafen gemeldet, etwas zu früh für seinen Geschmack. Er hoffte, dass sie die Gorillas des Fremdenverkehrsbüros abschütteln und ihm Zeit zum Verlassen der Kuppel verschafft würde.
Im toten Winkel einer Überwachungskamera zog er den Raumanzug an und warf den schlafenden Kellner aus dem Container hinaus. Dann begann er mit der Dekompression des Anzuges. Der Innendruck musste auf ein Drittel des Luftdrucks der Kuppel reduziert und mit Sauerstoff angereichert werden, damit er sich im Vakuum nicht aufblies wie ein Luftballon und ihn unbeweglich machte. Etwas langsamer und mit einem Knistern vom sinkenden Druck in den Ohren, lief er weiter.

Rodrigo Mendez wartete. Seine unendliche Geduld, die man auch als völlige Abwesenheit eigener Gedanken auffassen konnte, machte ihn zum perfekten Personenschützer. Er stand vor der Herrentoilette des Raumhafens, in der seine Zielperson gerade verschwunden war. Er wunderte sich nicht, dass dieser Vrondijk, den er bis zum Passieren der Personenkontrolle im Auge behalten sollte, so lange brauchte. Auch die Frau im grünen Overall, die aus der Herrentoilette kam, irritierte ihn nicht. Erst, als das Boarding für das Schiff, das Vrondijk nehmen musste, angekündigt wurde, blitzte in der Leere seines Gehirns die Idee auf, nachzusehen, wie es um den Schutzbefohlenen stand. Er betrat die Toilette und klopfte an die einzige verschlossene Toilettenkabine. „Señor Vrondijk“ rief er. „Ihr Flug wird gerade aufgerufen. Sie müssen sich beeilen.“ Er schlug etwas fester an die Tür, als das flache Gesicht Vrondijks unter der Kabinenwand hervorquoll. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein überfordertes Gehirn die richtigen Schlüsse zog und er Alarm auslöste.

Victor hatte die Notschleuse fast erreicht, als ein rotes Rundumlicht aufleuchtete und die rettende Öffnung, der nach innen offenen Schleusenkammer, sich vor ihm schloss.
Vergeblich versuchte er, die Kontrollen der Schleuse zu überreden, sich wieder zu öffnen und ihn ins Freie zu lassen. Fluchend lief er herum und überlegte, wo er sich verstecken konnte, als ein Flugwagen herankam.
Zu spät, dachte er, den bitteren Geschmack der Niederlage auf der Zunge. Er ballte die Fäuste, blieb aber ruhig stehen, um keinen Verdacht zu erregen. Der Wagen landete in einiger Entfernung. Er trug das Zeichen des Fremdenverkehrsbüros. Ein stämmiger Kerl und eine Frau stiegen aus. Sie näherte sich Victor, der Gorilla blieb stehen, die rechte Hand demonstrativ unter der Jacke verborgen. Sicher befand sich dort eine großkalibrige Schusswaffe, von der er freudig Gebrauch machen würde.
Victor war unbewaffnet. Selbst wenn er die FV-Büro Agentin überwältigte, kam er nicht an den Bewaffneten heran, bevor er seine Waffe einsetzte.
„Fremdenverkehrsbüro. Was transportieren Sie da?“ Sie stand bewusst so, dass Victor sie nicht schnell erreichen konnte und ihr Kollege freies Schussfeld hatte.
„Abfall. Giftiger Abfall. Sehr gefährlich. Sie sollten das nicht aufmachen.“
„Ich sehe keine Zeichen. Haben Sie Papiere dafür?“
Victor schüttelte den Kopf.
„Dann machen Sie sofort auf.“
„Ich habe Sie gewarnt.“ Umständlich öffnete Victor die luftdichten Verschlüsse.
„Treten Sie beiseite.“ Sie deutete auf eine Stelle neben dem Container, weit genug weg, um ihr nicht gefährlich zu werden.
Victor tat wie befohlen und ging in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Es waren nicht viele.
Die Agentin hob den Deckel an und sah hinein. Ihre Augen weiteten sich.
„Da haben Sie einen besonders ekelerregenden Abfall drin.“
Victor blinzelte, unsicher was sie meinte. „Ich kann Ihnen nicht ganz folgen,“ fragte er vorsichtig.
Sie sah ihn mit einem sardonischen Lächeln an. „Sie nehmen jetzt diesen Sondermüll, verschwinden damit durch die Schleuse und entsorgen ihn im finstersten Loch das Sie finden. Richten Sie ihm einen Gruß von Corinne Müller aus.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rief ihrem Kollegen zu: „Er ist sauber und darf nach draußen.“

Eine Stunde später schälte sich Victor aus dem Raumanzug. Während des gesamten Fußmarsches zur Ockham’s Razor hatte er erfolglos gerätselt, warum die Agentin ihn hatte ziehen lassen. Seine Neugier war jedoch nicht so groß, dass er zurückkehren und es herausfinden wollte.
Er schob den Container mit dem bewusstlosen Vrondijk zu den Tiefschlafkammern, als eine kleine Roboterdrohne zu ihm schwebte. „Hallo Lysi“, grüßte er. „Wo ist dein anderer Avatar?“
„Er hat die Raumhafenkuppel vor dem Alarm verlassen und wird in einer halben Stunde hier sein,“ schnarrte die Drohne.
„Gut,“ antwortete Victor und gähnte. „Sobald er an Bord ist, fliegen wir nach Hrungia und liefern diese Qualle ab. Bereite alles zum Start vor, während ich ihn in eine Tiefschlafkammer packe.“
Die Drohne sauste aus dem Raum. Nicht weil sie für irgendeine Vorbereitung nötig war, sondern um Victor zu zeigen, dass Lysi in Aktion trat.
Nach einigen Minuten erklang lautes Fluchen aus dem Frachtraum. Der Roboter flitzte hinein und fand Victor schimpfend und schwitzend über eine offene Kammer gebeugt: „Er passt schon wieder nicht rein!“